1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Tiger" am Abgrund

Rodion Ebbighausen26. November 2012

Vor Jahren galt Vietnam als wirtschaftliches Boomland. Doch Krise und Missmanagement haben das Land an den Rand des Ruins gebracht. Die Regierung steht vor einer Mammutaufgabe.

https://p.dw.com/p/16q2U
Arbeiter auf Baugerüst in Hanoi (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Tuan ist ein junger, gut ausgebildeter und ehrgeiziger Vietnamese aus Hanoi. Der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahre hat ihm zu bescheidenem Wohlstand verholfen. Die Familie wohnt in einem neuen Haus, er hat überlegt, ein Auto zu kaufen. Als Beamter bei der Bezirksregierung hatte er ein gutes Auskommen. Zusätzlich investierte er in Immobilien und eine Firma für Fernsehtechnik.

Aber Tuans Zuversicht der letzten Jahre ist inzwischen Verunsicherung und Zukunftsangst gewichen. Vom Autokauf ist keine Rede mehr, er fürchtet um sein Erspartes und den Einbruch der Immobilienpreise: "Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Die Schulden machen das Land handlungsunfähig. Am Ende trifft es uns alle."

Die Immobilienpreise sind um mehr als 30 Prozent gefallen, die Inflation zieht an und lag im Oktober 2012 bei sieben Prozent. Der vietnamesische Börsenindex HNX ist auf dem niedrigsten Stand seit einem Jahr. Ratingagenturen wie Moody's und Standard & Poor's schätzen Investitionen in Vietnam als "hoch spekulativ" ein.

Infografik Vietnam Wirtschaftsindikatoren Deutsch DW-Grafik: Olof Pock Datum 14.11.2012 2012_11_14 Vietnam_DEU
Weiterhin trübe Aussichten für die vietnamesische Wirtschaft

Gefährlicher Abschwung

Das Wirtschaftswachstum hat sich auf vier bis fünf Prozent abgeschwächt. Zu wenig, um Jobs zu schaffen für eine schnell wachsende Bevölkerung und immer mehr junge Menschen, die auf den Arbeitsmarkt drängen. "Die Verlangsamung des Wachstums ist für ein Regime, dessen Legitimität auf dem Wirtschaftswachstum beruht, signifikant", so Adam Fforde von der Victoria-Universität in Melbourne.

In den letzten zwei Jahren haben eine Million Menschen ihre Arbeit verloren, schätzt Fforde. Und das in einem Land, in dem es keine sozialen Sicherungssysteme gibt.

Rettung durch die Regierung zweifelhaft

Angesichts der dramatischen Entwicklung spricht Tuan aus, was viele Vietnamesen hoffen, obwohl sie selbst kaum noch daran glauben: "Ich hoffe, die Regierung findet einen Ausweg. Wir brauchen einen Befreiungsschlag."

Ministerpräsident Nguiyen Tan Dung (Foto: AP)
Ministerpräsident Nguyen Tan Dung räumte vor kurzem "Fehler" in der Wirtschaftspolitik einBild: AP

Den Möglichkeiten und Fähigkeiten der Regierung, einen Ausweg aus der Krise zu finden, steht der Vietnamexperte Fforde wie auch viele Vietnamesen allerdings sehr skeptisch gegenüber. Vielmehr ist es seiner Ansicht nach gerade die Regierung, die einen großen Anteil an der wirtschaftlichen Misere hat.

Denn das 1986 ins Leben gerufene Programm zur politischen und wirtschaftlichen Öffnung Vietnams namens "Doi Moi" ("Erneuerung") konnte zwar anfangs enorme Erfolge verzeichnen, erwies sich aber als wenig nachhaltig. "2007 brach das Gleichgewicht auseinander", sagt Vietnam-Experte Fforde. "Die traurige Wahrheit trat plötzlich zutage, dass die Regierung vielleicht doch nicht die Kontrolle hat, dass sie bisher einfach Glück gehabt hatte."

Krisenmanagement in der Kritik

Vietnam wurde, wenn auch zeitlich etwas verzögert, von der Wirtschaftskrise 2007 hart getroffen, da die Wirtschaft stark vom Export abhängt. Die Wirtschaftslenker in Hanoi legten kostspielige Konjunkturpakete auf. Ein großer Teil der Gelder versickerte im Sumpf von Korruption und Missmanagement vor allem bei den mächtigen staatseigenen Konzernen. Übrig blieb ein gewaltiges Defizit beim Staat, den Banken und Unternehmen. Die Kreditinstitute sitzen auf bis zu fünfzehn Prozent faulen Krediten. 

Die Parteispitze hat nach internen Machtkämpfen in den letzten Monaten  die Reihen geschlossen. "Ein Zeichen dafür, dass die Parteiführung begriffen hat, wie ernst die Lage ist", sagt Jörg Wischermann, Vietnamexperte aus Berlin. Allerdings gehe es den Parteispitzen zuerst um den eigenen Machterhalt und erst dann um das Land. Dazu passt auch, dass viel Geld in den repressiven Sicherheitsapparat gesteckt wurde.

Premier Nguyen Tan Dung und Präsident Truong Tan Sang (Foto: AP)
Die Partei hat nach Machtkämpfen die Reihen geschlossenBild: AP

Zur Lösung der Krise müsste sich Vietnam zu einem Land mit einer tragfähigen Mittelschicht entwickeln. Voraussetzung dafür wäre kurzfristig die Streichung von Privilegien für staatseigene Unternehmen, eine Rekapitalisierung des Bankensektors und die Bekämpfung der Korruption. Mittel- bis langfristig müsse der Ausbau des Bildungssystems, des Gesundheitswesens und der Infrastruktur vorangetrieben werden, so Vietnam-Experte Adam Fforde. Nicht zuletzt müsste eine echte Agrarreform in Angriff genommen werden, die nach der Liberalisierung von 1986 in den Anfängen steckengeblieben ist.