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Wie viel Gegenwind verträgt der Aufschwung?

Sabine Kinkartz10. April 2014

Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute sehen Deutschland in diesem und im nächsten Jahr weiterhin im konjunkturellen Aufwind. Wenn nur die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung nicht wäre.

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Ein Monteur arbeitet an Naben für Windkraftanlagen. Foto: Jens Büttner/dpa
Bild: picture-alliance/dpa

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Es ist Haushaltswoche in Berlin, im Deutschen Bundestag debattieren die Parlamentarier vier Tage lang darüber, was der Bund in diesem Jahr ausgeben darf und wer das Geld bekommen soll. Es ist der erste Etat der großen Koalition aus CDU, CSU und SPD und er stößt nicht nur bei der Opposition auf wenig Gegenliebe. Auch führende Wirtschaftsforschungsinstitute lassen in ihrem Frühjahrsgutachten an zentralen Vorhaben der Bundesregierung kein gutes Haar.

Viele der ergriffenen Maßnahmen würden ihre Ziele nicht erreichen, sondern stattdessen neue Probleme schaffen, sagte Professor Dr. Oliver Holtemöller vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) bei der Vorstellung des Gutachtens in Berlin. Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung erzeuge "Gegenwind für die deutsche Konjunktur".

Absage an Mindestlohn und Rente mit 63

Es sind strategisch wichtige Bereiche, an denen die Wissenschaftler Kritik üben. "Die abschlagsfreie Rente ab 63 konterkariert die Bemühungen, die Rentenversicherung an die steigende Lebenserwartung anzupassen. Stattdessen wird sie das Produktionspotenzial dämpfen", erläutert Holtemöller.

Die Wissenschaftler sprechen von einer "Rolle rückwärts" in der Rentenpolitik. Das Sozialversicherungssystem könne langfristig nur stabilisiert werden, indem das Rentenniveau gesenkt oder die Rentenbezugsdauer verkürzt werde. Die Rente mit 63 sei das genaue Gegenteil.

Zwei ältere Damen und ein Herr sitzen mit einem Sonnenschirm bei strahlendem Sonnenschein auf einer Bank auf dem Schlossplatz in Stuttgart (Baden-Württemberg). Foto: Sebastian Kahnert/dpa
Deutschland wird immer älter, doch wer soll die Renten bezahlen?Bild: picture-alliance/dpa

Wenig Zuspruch findet auch die Einführung einer gesetzlichen Lohnuntergrenze von 8,50 Euro. Der Mindestlohn werde die Beschäftigungschancen Geringqualifizierter insgesamt eher schmälern und – da Transfers reduziert werden – kaum zur Reduktion von Armut beitragen, heißt es im Frühjahrsgutachten. In der Konsequenz würden im kommenden Jahr 200.000 Arbeitsplätze wegfallen, in den drei Jahren danach weitere 150.000.

"Wenn man nichts weiß ….."

Einschränkend fügen die Wissenschaftler allerdings hinzu, dass sie sich mit ihrer Prognose auf dünnem Eis bewegten. Schließlich sei der Mindestlohn für die deutsche Wirtschaft absolutes Neuland. Trotzdem hält das Gutachten weitere Zahlen bereit. Rund vier Millionen überwiegend Teilzeitbeschäftigte im Handel, in der Landwirtschaft sowie im Dienstleistungs- und Gastgewerbe dürften ab dem kommenden Jahr mehr Geld verdienen. Die Bruttolöhne und Gehälter in Deutschland sollen sich dadurch um insgesamt sechs Milliarden Euro erhöhen.

Die Unternehmen könnten diesen Lohnkostenanstieg nicht vollständig abfedern, ein Teil werde auf die Preise abgewälzt werden. "Aber auch da gilt, dass wir für Deutschland keine Erfahrungen damit haben, was passiert, wenn man einen Mindestlohn einführt und daher wissen wir auch nicht, wie viel von den Gewinnen aufgefangen wird und wie viel in die Preise geht. Wir haben das in unseren Berechnungen hälftig aufgeteilt. Wenn man nichts weiß, macht man 50:50", räumt Oliver Holtemöller ein.

Erntehelfer gehen über zum Teil wetterbedingt mit Folien abgedeckte Spargelfelder. Foto: Wolfgang Weihs dpa/lni
Mehr Geld werden auch Erntehelfer verdienenBild: picture-alliance/dpa

Qualität statt Quantität

Rente und Mindestlohn sind aber nicht die einzigen Politikfelder, auf denen die Gutachter mit der Bundesregierung hart ins Gericht gehen. Bei den öffentlichen Investitionen vermissen sie eine gründliche Bestandsaufnahme. Mehr Geld für Bildung und Infrastruktur sei zwar grundsätzlich richtig, die Mittel dürften aber nicht nach dem Gießkannenprinzip über das Land verteilt werden.

"Die Frage ist, wie man den Investitionsbedarf identifiziert und wie man vorgeht: Legt man eine Summe fest und orientiert sich dabei an internationalen Quoten und sucht dann die Verwendungszwecke oder geht man andersherum vor und sagt, wir identifizieren erst einmal die sinnvollen Maßnahmen und bringen dafür die Finanzierung auf und prüfen also vorher sehr genau die Effizienz?" Genau darin sei Deutschland im internationalen Vergleich "bisher nicht gerade gut", kritisiert IWH-Professor Holtemöller.

Konjunktur geht trotzdem aufwärts

Angesichts der reichlich bemessenen Kritik mutet es beinahe überraschend an, dass Deutschland konjunkturell dennoch gut dasteht. Mit in diesem Jahr 1,9 Prozent Wirtschaftswachstum und 2015 rund zwei Prozent sehen die Wissenschaftler Deutschland durchaus sogar längerfristig auf dem Weg nach oben. Die Beschäftigung werde in beiden Jahren jeweils einen Rekordwert erlangen. Die Bundesregierung freut das, denn es macht sie weniger angreifbar für Kritik.

In der Haushaltsdebatte machte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ohnehin nicht den Eindruck, als lasse sich die Koalition von ihren Plänen noch abbringen. "Etwas mehr als einhundert Tage nach dem Amtsantritt beweist die Bundesregierung mit diesem Haushalt Handlungsfähigkeit und was noch viel wichtiger ist: die Menschen stehen hinter den zentralen Projekten dieser Regierung", sagte der SPD-Chef und Vizekanzler im Bundestag.

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) spricht am 10.04.2014 im Bundestag in Berlin. Foto: Tim Brakemeier/dpa
Lässt sich von Kritik nicht beirren: Wirtschaftsminister Sigmar GabrielBild: picture-alliance/dpa

Am Ende zählt nur der Wählerwille?

Gabriel fühlt sich von maßgeblicher Seite bestätigt. Die Bürger würden "mit überwältigender Mehrheit" hinter dem Mindestlohn stehen, so Gabriel, ebenso hinter der abschlagsfreien Rente nach 45 Arbeitsjahren. "Sie stehen hinter der Anerkennung von Erziehungsleistungen der Mütter in der Rente ebenso, wie sie richtig finden, dass wir mehr Geld für Kindertagesstätten, Bildung und Hochschulen ausgeben." Die Deutschen seien zudem für eine bessere Ausstattung der Kommunen und sie wollten die Energiewende.

Die kommt im Frühjahrsgutachten übrigens auch nicht gut weg. Die Umsetzung der Energiewende sei ein gutes Beispiel dafür, welche negativen Effekte auftreten würden, wenn marktwirtschaftliche Grundsätze außer Kraft gesetzt werden, heißt es. Auch nach der jüngst beschlossenen Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes bliebe die Unsicherheit über die energiepolitischen Rahmenbedingungen bestehen. Der Investitionsbereitschaft der Unternehmen und dem Wirtschaftswachstum wird das nach Ansicht der Wissenschaftler nicht gut tun.