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Ruck zurück

Kristin Zeier9. August 2004

Die Debatte um die Rechtschreibung zeigt, wie schwer den Deutschen Veränderungen fallen. Es gibt handfestere Beispiele, aber keines passt besser zum Land der Dichter und Denker, meint die US-Amerikanerin Kristin Zeier.

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Nein, die Rechtschreibreform ist kein Thema, worüber eine ausländische Journalistin schreiben sollte, wenn sie über Deutschland berichtet. Die Debatte über die Rechtschreibreform dient eher als Analogie. Ob die Bevölkerung Kommata richtig oder falsch setzt, ist eher zweitrangig, aber die Debatte über die Reform der Rechtschreibung ist durchaus symptomatisch für die derzeitige Lage in Deutschland.

Im Ausland sieht man alte Vorurteile bestätigt. Die Deutschen diskutierten und philosophierten lieber, als zu entscheiden und zu handeln. Der Beleg liegt schwarz auf weiß vor: Nach sechs (!) Jahren kehrt Deutschland möglicherweise zurück zur alten Schreibweise. Das Hin und Her um Worte mit großen und kleinen Buchstaben, Bindestrich-Schreibung und Zeichensetzung verweist auf die tiefer liegenden Probleme in der Gesellschaft.

Denn es gibt jede Menge Reformen, mit denen sich Politiker, Medien und die Deutschen derzeit beschäftigen könnten und sollten. Angefangen mit den Arbeitsmarktreformen, der Gesundheitsreform, der Rentenreform, der Steuerreform, über die Frage nach der demografischen Entwicklung des Landes, einem Einwanderungsgesetz und der Integration von Ausländern, bis zu einer modernen Familienpolitik mit flächendeckender Kinderbetreuung – das sind alles Themen, die ein klares Handeln verlangen.

Politiker neigen zu vorsichtigem Vorantasten. Bei manchen Themen ist das vielleicht auch gut so. Mit der so genannten "Agenda 2010" hat Deutschland jahrelang weitere Reformen vor sich. Wer möchte am Ende da stehen und sagen: "Ach, es war doch früher besser, lass uns in das Jahr 2004 zurückkehren?"

1996, als das Regelwerk für die neue Rechtschreibung beschlossen wurde, hieß es, ab jetzt würden Schüler, zumal diejenigen, die Deutsch als Fremdsprache lernen, mit der deutschen Orthografie besser klar kommen. Das ist weiter ein erstrebenswertes Ziel. Doch jetzt, nach sechs Jahren Unterricht in den Schulen und fünf Jahren Praxis in den Medien, ist möglicherweise alles vorbei.

Was ist los? Haben die Deutschen kalte Füße bekommen? Fürchten sie, dass es vielleicht doch falsch sein könnte, etwas Altes zu ändern? Warum sagen die Politiker nicht: "Halt. Wir haben uns dafür entschieden - und wir bleiben dabei." Warum sagen nicht die Journalisten, die Linguisten, die Literaten: "Auch wenn die heutige Generation von Lesern etwas verwirrt ist, wir bleiben dabei, denn wir machen die Reformen nicht für uns jetzt, sondern für die Zukunft."

Vor einigen Jahren sagte der damalige Bundespräsident Roman Herzog, es müsse ein Ruck durch Deutschland gehen. Doch an dem Ringen um eine neue Rechtschreibung sieht man, wie es wirklich um Deutschlands Reformwillen steht: Gewünscht wird der Ruck zurück.